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Der Polnische Graf

Deutsches Schifffahrtsmuseum, Bremerhaven, 1986
Deutsches Schifffahrtsmuseum, Bremerhaven, 1986

Heute ist Vaters Geburtstag. Das hätten wir groß gefeiert. Danach hätten wir am Küchentisch gesessen, Vater hätte eine Flasche Selbstgebrannten vom Schredl auf den Tisch gestellt, ein Mitbringsel vom letzten Urlaub in Windischgarsten. Ich hätte das Schachbrett, das die Eltern mir 1978 im Kaufhaus Gum in Moskau kauften, geholt. Auf Dich, Bussard! E2 - E4. Bent Larssen hätte die Nase gerümpft, weil wer mit dem Königsbauern eröffnet, stets verliert. Bobby Fischer hätte nur müde gelächelt ...

Erst ziehen, dann denken!
Erst ziehen, dann denken!

Das Schachspielen hat mir mein Vater beigebracht. Er war in seiner Jugend Mitglied in einem Schachclub gewesen. Voller Begeisterung erzählte er von dem legendären WM - Kampf zwischen Boris Spassky und Bobby Fischer in Reykjavik, der sich in jenem Jahr, es ist 1972, zugetragen hat. Um meinen Ehrgeiz anzustacheln, setzte Vater einen Preis aus, eine DM für ein Remis, fünf DM für einen Sieg. Die eine Mark verdiente ich relativ schnell, aber bis zu meinem ersten Sieg sollte es lange dauern. Ich war halt kein Genie wie Raul Capablanca. Ich war sechs und tat mich schwer. Die Erfolgserlebnisse holte ich mir bei meinen Freunden.

 

Bis zu meinem ersten Sieg gegen meinen Vater musste ich bis 1981 warten. Wir machten Urlaub in Norwegen, wohnten in einer Fischerhütte auf der Insel Størd. Das liegt zwischen Stavanger und Bergen. Fernsehen gab es nicht. Also wurde abends immer gespielt. Die Mitternachtssonne schien. Es wurde spät. Nach den Monopolyrunden mit der ganzen Familie, spielten Vater und ich immer  Schach. Der alte Herr hatte das ein oder andere Bier getrunken. Anders ist es nicht zu erklären, dass er, ganz auf das eigene Angriffsspiel bedacht, seinen Läufer ungedeckt ließ. Matt in drei Zügen. Vater nickte anerkennend. Den zerknitterten fünf DM Schein mit Bettina von Arnim darauf, habe ich heute noch. Es sind nicht viele Siege gegen meinen Vater hinzugekommen. Immer wenn ich Schachspiele, fühle ich meinen Vater hinter mir stehen. Er schaut dann auf das Brett und schüttelt mit dem Kopf.

Stürz die Welt in den Abgrund, denn sie trägt Sklavenketten unter ihrem Prachtgewand und ist feindlich der Freiheit, der du allein verpfändet bist!

Bettina von Arnim

Onkel Horst
Onkel Horst

Wir Kinder haben Onkel Horst geliebt. Er war eine schillernde Persönlichkeit und besaß magische Fähigkeiten. Er konnte alles reparieren. Wenn in der Familie etwas kaputt ging, wurde zuerst Onkel Horst gerufen. Er kam dann mit seinem großen Werkzeugkasten und brachte es in Ordnung. Dabei hatte er unendliche Geduld. Er liebte Technik. Und er liebte Musik. Onkel Horst konnte zwar keine Noten lesen, aber alle Instrumente spielen. Er hatte ein absolutes Gehör. Wenn er ein Lied im Radio hörte, das ihm gefiel, dann nahm er seine Gitarre,  probierte kurz herum, so als würde er sie stimmen, und dann spielte er das Lied. 

Der Polnische Graf

Das Foto von mir hat Onkel Horst mit seiner Minox, der Geheimagentenkamera, aufgenommen. Alles Technische faszinierte ihn. Nach dem Krieg hatte er das erste Motorrad in der Gartenstadt, der Siedlung in Wanne, wo er und Tante Ruth wohnten. OK, diesen Satz habe ich schon öfter gehört. Es gab wohl einige erste Motorräder und Autos. Eines ist sicher. Horst war vorn mit dabei. In seiner Straße und in unserer Familie war er der erste. Schon bald fuhr er eine BMW Isetta, einen Fiat 500 und dann den legendären Käfer. Onkel Horst hatte auch den ersten VHS Videorekorder der Familie. Einen tragbaren Mitzubischi der ersten Generation, ein furchtbar sperriger Kasten mit einem Tragebügel. Als das Gerät nach 10 Jahren nicht mehr lief, hat Onkel Horst es an einem Wochenende komplett auseinandergebaut, alle Teile mit Feinöl gereinigt, alle Kabel durchgemessen und alles wieder zusammengebaut: Läuft!

Mit Onkel Horst war ich auch das erste Mal im Kino. Karl May, "Der Schatz im Silbersee". Onkel Horst war in der Familie für das Entertainment zuständig. Auf den Feiern machte er die Musik. Vom Band und live. Mit seinem Tonbandgerät und mit seinen Instrumenten. Mundharmonika, Schifferklavier, Gitarre. Meine Schwester und ich traten mit ihm auf. Das war der Höhepunkt jeder Feier. Geprobt haben wir nie. Die Musik war so allgegenwärtig, dass wir einfach loslegten. Griechischer Wein, Und es war Sommer ...

Den Videorekorder konnte sich jeder in der Familie ausleihen. Wenn wir einen Filmeabend machen wollten, brachte ihn Horst vorbei. Dann fuhr er mit uns zur Videothek. Der erste Film, den ich auf VHS sah, war Alien von Ridley Scott. Ein Meilenstein. Meine Schwester schwärmte für Bruce Lee.

Onkel Horst kam aus Schlesien. In seiner Familie wurde er, natürlich nur hinter vorgehaltener Hand, der polnische Graf genannt. Seine Mutter war Dienstmädchen in einer polnischen Adelsfamilie gewesen. Im Gegensatz zu seinen untersetzten blonden Geschwistern war er ein dunkelhaariger Hüne. Onkel Horst stach heraus. Er schien keine Furcht zu kennen. Er machte einen ungeheuren Eindruck auf die Menschen.

 

Onkel Willy, eigentlich ein Onkel meines Vaters, hat nie vom Krieg gesprochen. Als ich ihn ernsthaft danach fragte, erzählte er mir bei einer Kanne Kaffee am Küchentisch dann doch, was er erlebt hatte. Willy rauchte Rothändle. "Ich werde es Dir erzählen. Ein Mal!" Er war in Russland gewesen und hat die russische Kriegsgefangenschaft überlebt. "Die Großen und die Dicken", sagte er, "haben nicht überlebt. Markus, wenn du je in einer solchen Situation bist, Hunger leidest und es gibt etwas zu essen. Iss alles immer sofort auf! Sonst schimmelt das eh schon alte Brot oder die Ratten fressen es. Kameraden werden es dir klauen!" Ich begriff, wie ernst es ihm war. Er erzählte vom Rückzug. Wochen ohne Schlaf. Wenn man nicht mehr konnte, habe man sich im Sitzen auf den Oberschenkeln abgestützt und die Schlüssel des LKWs zwischen beiden Handflächen gehalten. Schlief man ein, fielen sie herunter und man wachte auf. Weiter! Am Ende zu Fuß. Ein Durchschuß. Kein Gefühl von Schmerz. Irgendwann war dann alles egal. "Ich habe mich einfach in eine Scheune gelegt und auf die Russen gewartet. Alles sinnlos." Seit jener Nacht bin ich Pazifist. Nie wieder Krieg!

 

Onkel Horst erzählte ganz anders vom Krieg.  Für ihn war es ein großes Abenteuer gewesen. Er war blutjung, wurde kurz vor Ende zur SS eingezogen und kam an die Westfront. Bei einem der ersten Gefechte wurde er verwundet. "Unser MG - Nest war durch einen Heuhaufen getarnt. Dann schlug eine Granate vor uns ein, die nächste hinter uns. Da dachte ich es wäre Zeit ... Alles wurde schwarz..." Als er aufwachte, lag er in einem Lazarett in den österreichischen Alpen. Fantastische Aussicht. Bildschöne Schwestern. 

Ich kann mich noch an die Badeurlaube mit Ruth und Horst erinnern. Wir Kinder staunten. Onkel Horst hatte am linken Fuß nur vier Zehen. Er erzählte, dass Metallsplitter immer noch durch seinen Körper reisen. Unter seinem Oberarm war eine Nummer tätowiert.

Nach Kriegsende kam Horst in französische Kriegsgefangenschaft. Er arbeitete im Straßenbau. Wunderschöne Gegend. Und die Französinnen! Oh, lá lá! Nach seiner Entlassung habe er das Angebot bekommen, in Frankreich zu bleiben und für gutes Geld weiter Straßen zu bauen, er wollte aber zurück in die Heimat. Nur die gab es nicht mehr. Schlesien. Also ging er dahin, wo es Arbeit gab. Ins Ruhrgebiet. Er arbeitete auf der Zeche Hanibal, machte dann aber eine Ausbildung zum Maler. Später schulte er zum Schlosser um und arbeitete im Stahlwerk von Thyssen Krupp. In den 70ern wurde er Abteilungsleiter in einem Baumarkt. Tante Ruth lernte er natürlich beim Tanzen kennen. "Er ist mir sofort aufgefallen ", lächelt Ruth noch heute.

Maurer "Karl"
Maurer "Karl"

Ist das nicht ein Blog für Pfeife und Tabak? Ja, klar! Ich komm ja jetzt darauf zu sprechen. Ratet mal, wen ich 1982 gefragt habe, mit mir zum Tabakladen zu fahren, um eine Pfeife zu kaufen. Klaro, den polnischen Grafen. Wenn jemand Verkaufsgespräche führen konnte, dann Onkel Horst. Er hatte die Gesprächsführung immer fest in der Hand. Seine Technik war es, gezielte Fragen zu stellen und seine Wünsche unmissverständlich darzulegen. Wer fragt, der führt! Es ist gar nicht erforderlich als Kunde König zu sein. Graf reicht vollkommen. Die Stanwell gab es deutlich reduziert. Tabak, Stopfer und Filter natürlich gratis. Widerspruch zwecklos.

 

So, langsam schließt sich der Kreis. Die spannende Frage ist ja, warum ein sechzehnjährige beschließt Pfeifenraucher zu werden? Jetzt wird' s persönlich. Dazu stopfe ich mir erstmal eine Pfeife. Der TaK Orient Esprex kommt in die Triskele von Rattray's. Der Gin kommt von der Insel Islay. Mein Vater und Onkel Horst sitzen hier bei mir. Lasst uns auf die trinken, die vorangegangen sind! Alles Gute zum Geburtstag, Papa! 

Sláinte mhaith, Bussard!
Sláinte mhaith, Bussard!
Bremerhaven, 1986
Bremerhaven, 1986

Motto der Argonauten

Seefahrt tut not!

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